Wilhelm
W E Y E R

Zeitschriften-Artikel
aus:
Siegerländer Heimatkalender 1951, S. 97–101

Dr. Wilhelm Weyer

Siegen im Wiederaufbau

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Siegen im Wiederaufbau von Willi Weyer

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Dr. Wilhelm Weyer
Siegen im Wiederaufbau

Alt-Siegen ist im Krieg versunken. Der Bombenhagel am 16. Dezember 1944, am 1. Februar und am 23. März 1945, sowie der Artilleriebeschuss vom 30. März bis 6. April legten es in Trümmer. Die Altstadt wurde bis zu 90 Prozent zerstört, die neueren Wohnviertel an den Hängen der Berge blieben zu einem großen Teil verschont. Erschütternd war der Anblick der Ruinen. Was Generationen mit unendlichem Fleiß geschaffen hatten, löschten nur wenige Minuten aus, und welche unsägliche Mühe und Kosten wird es bereiten, den Schutt wegzuräumen, bevor der Wiederaufbau beginnen kann! Hier wurde uns mit furchtbarer Anschaulichkeit die Unvernunft des ganzen Menschengeschlechtes vor Augen geführt, die immer wieder zerstörende Kriege erzeugt und die Vernichtungskraft der Kampfmittel in wahrhaft wahnsinnigem Ausmaß gesteigert hat. Der Anblick zerstörter Städte sollte eine letzte Mahnung für die Menschheit sein, den Krieg endlich als Mittel zur Regelung ihrer Streitigkeiten zu verbannen!

In Siegen wurden 4.096 von 4.338 Gebäuden und 10.169 von 10.452 Wohnungen beschädigt oder zerstört. Hinzu kommen die Schäden an den industriellen Anlagen, den Gebäuden der Verkehrs- und Versorgungsbetriebe (Wasser, Gas), den Behördenhäusern, den Krankenhäusern, Schulen, Kirchen, am Straßennetz, an den Brücken, an den Versorgungs- und Entwässerungsleitungen, an den Straßenbahn- und Obuslinien. Von den öffentlichen Gebäuden wurden schwer beschädigt: sämtliche Kirchen, das Rathaus, die beiden Schlösser, die Oberschule für Jungen (völlig zerstört), vier Volksschulen, das Stadtbad, das Marienkrankenhaus, das Altersheim, das Waisenhaus Anna-Helenen-Stift, das Stadthotel Kaisergarten, das Landratsamt, die Stadtsparkasse, das Katasteramt, das Arbeitsamt, das Finanzamt, das Knappschaftsgebäude, das Kulturamt, acht Flussbrücken, die Straßenbrücke über dem Bahnhof (nach Simony, Festschrift 1949).

Bald nach Beendigung der Kampfhandlungen begann, zunächst zaghaft, der Wiederaufbau. Das Dringlichste war die Wasserversorgung. In den Monaten März und April war die Stadt fünf Wochen lang ohne jegliche Wasserzufuhr. In sieben Monaten, bis November 1945, konnten alle Schäden am Leitungsnetz, an den Hochbehältern und Pumpwerken beseitigt und sämtliche bewohnten Straßen der Stadt und der angeschlossenen Ortschaften wieder mit Wasser versorgt werden.

Die elektrischen Umschaltwerke und Leitungen hatte das Elektrizitätswerk Siegerland bereits im Juni 1945 soweit ausgebessert, dass der dringlichste Bedarf an Elektrizität in der Wirtschaft und in den Krankenhäusern und Kasernen, sowie den Haushalten und bei der Straßenbeleuchtung befriedigt und der Nahverkehr mit Obus und elektrischer Straßenbahn im Juni/Juli wieder aufgenommen wurde. Im weiteren Wiederaufbau der Versorgung in diesen lebensnotwendigen Dingen, Wasser, Gas und Elektrizität, haben das E.W.S. und die Stadtwerke Siegen jetzt den alten Stand erreicht, zum Teil überschritten.

Der Wiederaufbau der Wohnhäuser ging natürlich langsamer voran. Er wurde durch die Drosselung der Wirtschaft, durch die Besatzungsmächte und durch den Währungsverfall außerordentlich gehemmt. Es fehlte an den erforderlichen Baustoffen und auch an Transportmitteln, aber auch an der Bereitwilligkeit der Baufirmen und Bauarbeiter, für Geld zu arbeiten, das nicht durch eine ausreichende Produktion gedeckt war. So konnte nur der wiederaufbauen, der in der Lage war, Kompensationswaren zu schaffen. Das war im Wesentlichen nur der Wirtschaft selber – bei Groß-, Mittel-, Klein- und Kleinstbetrieben – möglich, nicht aber den Lohn- und Gehaltsempfängern. Im Hinblick darauf, dass der Umfang der Zerstörung eine umfassende Planung durch die Baubehörden erforderlich machte, bedeutete dieser Zustand sogar einen Vorteil, verhinderte jedoch die allzu starke Ausdehnung des „wilden Bauens“ und gab Zeit für diese Planung. Die Stadt Siegen richtete ein Planungsamt ein, zu dessen Leiter sie den städtebaulich bereits bekannten Oberbaurat a.D. Dr.-Ing. Helmut Delius, einen Sohn des früheren Oberbürgermeisters, berief. Seine Entwürfe lösten in der Bürgerschaft und bei den Architekten erheblichen Widerspruch aus, der sich vor allem gegen die geplanten Laubengänge und die Wiederbebauung des Klubbgeländes am Markt richtete.

Da die Hauptstraßen der Altstadt, die Marburger-, Kölner- und Löhrstraße, für den neuzeitlichen Verkehr zu schmal sind, soll die Fahrbahn hier auf der rechten Seite (vom Markt aus gesehen) bis an die Häuserfronten erweitert und der Bürgersteig in etwa zwei Meter Breite unter das erste Stockwerk gelegt werden, das infolgedessen an der Straßenseite durch Säulen getragen werden muss, wodurch Laubengänge – Arkaden – entstehen.

Die Besitzer dieser Häuser halten den Lichtabfall in den nun tiefer liegenden Läden für eine dauernde Belastung ihrer Grundstücke. Sie wollen Lieber den erforderlichen Streifen zur Verbreiterung der Straße abtreten. Da in der Löhr- und Kölner Straße bereits eine Anzahl Häuser mit solchen Arkaden entstanden sind, wird sich hier am Entwurf des Planungsamtes nichts mehr ändern lassen. In der vorderen Marburger Straße (vom Markt aus) wäre das noch möglich. Inzwischen haben sich weite Kreise der Bevölkerung davon überzeugt, dass die Laubengänge architektonisch recht gut wirken und eine malerische Bereicherung des Stadtbildes darstellen.

Auch konnten einige Ladeninhaber feststellen, dass sie sich geschäftlich durchaus keinen Nachteil mkit sich gebracht haben. Eher das Gegenteil ist der Fall.

Nach der Währungsreform setzte der Wiederaufbau in einem erstaunlichen Tempo wieder ein. Wenn er sich inzwischen infolge der Wirtschaftskrise auch wieder etwas verlangsamt hat, so wird von Besuchern Siegens allgemein anerkannt, dass die Stadt in der Beseitigung der Kriegsschäden viel weiter gekommen ist als manche andere.

Die Häuser in der Altstadt werden nicht wieder giebel, sondern traufenseitig errichtet. Man hat den Eindruck, dass durch das wilde Bauen noch nicht allzu viel verdorben ist, und wenn einmal alle Häuser wieder stehen und in den sich ankündigenden Formen geschaffen werden – Middelhauve, Guntermann, Jäger – dann braucht einem um das zukünftige Stadtbild Siegens nicht bange zu sein. Es wird dann allerdings nicht so glanzvoll wirken wie das alte mit seinen prächtigen Renaissance-Häusern am Markt, aber es wird in seinen klaren Formen und harmonischen Maßen und in seiner Ausgeglichenheit im Gesamten der Ausdruck unserer Zeit und ein wohltuendes Zeugnis eines einfachen, tüchtigen Geschlechtes sein.

Die Wiederbebauung des Klubbgeländes an der Nikolaikirche wird vom Stadtplaner vorgeschlagen, einmal um den architektonisch zu großen Raum des Marktplatzes in kleinere Räume aufzugliedern und ihm hiermit zugleich einen Abschluss nach Osten und Westen zu geben, zum andern, um die Nikolaikirche nach mittelalterlicher Auffassung, der noch heute Geltung zukommen kann, wieder vom Getriebe des Alltags abzusondern und gewissermallen in einen „heiligen Bezirk“ einzuschließen. Die vor etwa 25 Jahren aufkommende Meinung, dass man Kirchen auf weiten Plätzen freilegen müsse, auf denen sie dann in trostloser Einsamkeit stehen wie ein Briefbeschwerer auf einem Schreibtisch, hat man heute allgemein als irrig anerkannt. Die Siegener Bürger, an ihrer Spitze die Geistlichkeit, haben sich also an die Weite ihres Marktplatzes gewöhnt und wollen ihre Kirche in dieser erhalten wissen. Aus der Art der Neugestaltung der Kirche ergibt sich jedoch eine weitere architektonische Notwendigkeit für die Wiederbebauung des Klubbs, von der weiter unten die Rede sein soll. In der letzten Zeit hat der Allgemeine Deutsche Automobilklub das Klubbgelände als Parkplatz für die Oberstadt beansprucht, da es andere Möglichkeiten für die Anlage eines solchen hier nicht gebe. Im Streit der Meinungen hat die Stadtverwaltung ein Gutachten von zwei berufenen Städtebauern über die Entwürfe ihres Planungsamtes anfertigen lassen. Sie haben diese im Wesentlichen gebilligt. Über die Neugestaltung des Kölner Tores und der unteren Kölner Straße ist man sich im großen und ganzen einig. Hier soll der wunderbare Blick von der Bahnhofstraße über die Siegbrücke auf die Martinikirche und das Untere Schloss freigehalten werden und damit das alte Stadtbild, wenn auch zum Teil in neuer Form, wiedererstehen.

Die zerstörten oder beschädigten öffentlichen Gebäude sind noch nicht alle wiedererstelt. Der katholischen Gemeinde der Marienkirche in der Löhrstraße gelang es als erster, ihr Gotteshaus in einen brauchbaren Zustand zu versetzen. Das ausgebrannte Schiff wurde bald wieder eingewölbt, der Turm in seiner alten Form mit der welschen Haube und der Laterne wiederaufgebaut, mit Kupfer gedeckt und mit einem aus vier gusseisernen Glocken bestehenden Geläute versehen. Auch die evangelische Martinikirche konnte im vergangenen Jahr für den Gottesdienst wieder in Gebrauch genommen werden, nachdem das zerstörte spätgotische Netzgewölbe durch eine flache Betondecke ersetzt und Dach und Turm in Eisenkonstruktion wieder errichtet waren. Das Geläute wurde auf drei Geläute verstärkt.

Die Wiederherstellung der Nikolaikirche, des bedeutsamsten Bauwerks Siegens, schreitet aus Geldmangel leider nur sehr langsam vorwärts. Glücklicherweise ist sie inzwischen wieder gedeckt worden, so dass die Witterung keinen weiteren Schaden am Mauerwerk anrichtet. Die Dachgestaltung macht dem Architekten wegen des einzigartigen, ja eigenwilligen Grundrisses der Kirche besondere Schwierigkeiten. In ihr durchdringen sich das Raumprinzip des Längs- und des Zentralbaues. Das gesamte Gebäude besteht aus vier Baukörpern: dem Turm, dem Sechseckbau, dem Chor und der Apsis. Der Planer stand vor der Entscheidung, Sechseckbau und Chor wieder unter ein hohes Satteldach zu bringen und mit dem Turm zu einer Einheit zu verbinden, oder den beiden Baukörpern die ihnen gemäße Gestalt des Daches zu geben, also dem Sechseckbau ein Zeltdach und dem Chor ein Satteldach. Er zog diese Lösung vor, da sie den Grundriss des Gesamtgebäudes zum Ausdruck bringt und da vermutet werden kann, dass sie der ursprünglichen Dachgestaltung entspricht. Freilich geht bei ihr sowohl die Einheitlichkeit des Bauwerkes (auf die man allerdings auch zur Zeit der Entstehung keinen Wert legte) als auch die Monumentalität verloren, diese sowohl für die Sicht aus der Nähe wie der Ferne, aus der nur der Turm monumental erscheint. Beide Einwände liegen, wenn auch nicht klar erkannt, der weitverbreiteten Ablehnung dieser Lösung zugrunde. Indessen ist mit dem neuen Dach eine vollendete Tatsache geschaffen, und man wird abwarten müssen, wie die Kirche nach Ablauf der Wiederherstellung wirkt.

Von den bedeutsamen Profanbauten der Stadt ist es das Untere Schloss dessen Wiederaufbau am meisten fortgeschritten ist. Am Kurländer Flügel sind mit sehr viel Gefühl für die Formensprache solcher Bauwerke das Dach mit seinen zahlreichen Gaupen und die Fenster wiederhergestellt. Der Dicke Turm an der Kölner Straße hat wieder ein Dach, d.h. eine welsche Haube, der Marstall und der östliche Teil des Mittelflügels liegen allerdings noch in Trümmern.

Was im stark beschädigten Oberen Schloss die städtischen Behörden zusammen mit dem Museumsverein an Wiederaufbauarbeit geleistet haben, sodass das Museum bereits 1947 zu einem erheblichen Teil wiedereröffnet werden konnte, tritt nach Außen nicht in Erscheinung, da es sich bisher immer noch um die Wiederherstellung von Innenräumen handelte. Das Dach und der „Turm“, d.h. die welsche Haube, das Wahrzeichen Siegens, konnten noch nicht wieder errichtet werden. Es steht aber zu hoffen, dass es noch in diesem Jahr geschieht.

Den Wiederaufbau des Rathauses haben die städtischen Behörden immer wieder hinter den Wohnungsbau zurückgestellt. Er hat daher nur in einzelnen, durch längere Pausen unterbrochenen Abschnitten betrieben werden können und ist noch nicht beendet. Der Krieg hat hier Verheerungen angerichtet, die der architektonischen Gestaltung des Verhältnisses zwischen dem alten und dem neuen Teil zugute kommen. Erst jetzt kommt es zu einem befriedigenden Zusammenklang zwischen Beiden und gewinnt das gesamte Gebäude an Gestalt, die auch in ferneren Zeiten noch als künstlerisch einwandfrei empfunden werden wird, während der 1912 erstandene Teil, trotz des guten Willens des Erbauers, den man in ihm spürt, als Fremdkörper, als nicht angeglichen empfunden wurde, enthielt er doch Bauformen, die denen des alten Teils widersprachen. Auch der Zusammenklang mit der Nikolaikirche wird durch die neue Planung hergestellt, die von den Architekten Meckel und Köhne stammt.

Das völlig zerstörte Realgymnasium in der Oranienstraße wird an diesem Platze wieder erstehen. Der Bau beginnt noch in diesem Jahre. Das zerstörte Waisenhaus Anna-Helenen-Stift ist Ende Juni dieses Jahres wieder beziehbar geworden. Landratsamt und Finanzamt und das Knappschaftsgebäude sind wiederhergestellt, das Kulturamt hat sich in der Freudenberger Straße ein neues Haus geschaffen. Am Arbeitsamt wird gebaut. Ein Neubau der Verwaltung der Allgemeinen Ortskrankenkasse in der Frankfurter Straße ist im Entstehen. Das Katasteramt befindet sich noch in seiner Notunterkunft. Die anderen öffentlichen Gebäude mögen hier unerwähnt bleiben, da sie im Bewusstsein des Volkes weniger bedeuten.

Aber von den Brücken muss noch die Rede sein, wenigstens von den großen. Bereits 1947 wurde die Hindenburgbrücke wiederhergestellt, 1949 die Siegbrücke in der Bahnhofstraße. Mit der Erneuerung der Weißbrücke in der Koblenzer Straße ist begonnen worden. Hindenburg- und Siegbrücke sind, durchaus der Zeit entsprechend, schlicht und sachlich, in ihren Formen harmonisch, aber ohne einen Zug ins Monumentale.

Wer durch Siegen und das Siegerland mit offenen Augen geht, spürt es, dass hier ein überaus tüchtiger und fleißiger Menschenschlag am Werke ist, der die Folgen des Krieges bald überwinden wird, wenn uns nur eine ungestörte wirtschaftliche Entwicklung beschieden ist.

(c) www.weyeriana.de · Letzte Änderung: 25. August 2024